01 Ganzheit

Leitsätze

  • Wir fördern die Ganzheit des Menschen und stellen Menschen über Funktionen
  • Wir schaffen eine Heimat, damit wir werden können, was wir sind

Erklärung

Heimat schaffen

Eine der Leitfragen bei der Erschaffung dieser Grundsätze war, wie wir denn eigentlich leben und arbeiten wollen. Wir möchten keine Work-Life-Balance im Sinne einer Trennung zwischen Arbeit und Leben. Also nicht arbeiten oder leben. Auch nicht von 8 bis 17 Uhr arbeiten und dann erst leben. Wir möchten leben während der Arbeit! Wir möchten eine Arbeit, mit der wir uns identifizieren können, die Sinn stiftet und die uns, unseren Familien und der Gesellschaft Leben und Mehrwert schafft.

Wir möchten einen Arbeits- und Lebensort, an dem Menschen über Funktionen stehen und in ihrer Ganzheit wahrgenommen und gefördert werden. Kaum ein anderer Begriff wird so sehr mit dem Gefühl verbunden, mich selber sein zu dürfen, wie Heimat – sei es ein geographisches Gebiet oder Menschen, welche mir eine sichere Umgebung bieten. Wir wollen diese Heimat sein, indem wir einen sicheren Ort schaffen, wo wir uns gegenseitig auf der Suche nach Ganzheit unterstützen.

Die Maschine als Ideal des Menschen

Im Zuge der Industrialisierung gab es eine neue Definition der Zusammenarbeit am Arbeitsplatz: Einer denkt und alle anderen führen aus. Die Menschen wurden dabei auf die Stufe einer Maschine gesetzt. Sie wurden zu „Arbeitnehmern“ welche durch Belohnungs- und Anreizsysteme zur Arbeit motiviert werden müssen. Der Mensch ist nicht mehr Mittelpunkt sondern Mittel.

Kein Wunder, dass die Burnout-Rate immer neue Dimensionen steigen und sich viele Menschen darüber beklagen, dass sie sich wie in einem Hamsterrad fühlen. Es tut gut mal inne zu halten, zu reflektieren und uns der Frage zu stellen: „Wollen wir wirklich so leben und arbeiten?“

Der Menschen hinter Masken

Der Arbeitsplatz wurde immer mehr zu einem Ort, an dem die Menschen Masken tragen, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn. Um Position und Identität auszudrücken gibt es Uniformen, blaue und weisse Kittel und Krawatten. Damit drückt der „Arbeitgeber“ auch gerade seinen Anspruch auf die Person aus.

Mit oder ohne Uniform haben viele Menschen das Gefühl, dass sie einen Teil ihres Selbst zurücklassen müssen, wenn sie zur Arbeit gehen. Man setzt sich eine professionelle Maske auf und richtet sich nach den Spielregeln des Arbeitgebers.

Im Buch „Reinventing Organizations – ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit“ geht der Autor Frederic Laloux dieser Frage nach:

“Warum lassen wir so viele Aspekte unseres Seins zurück, wenn wir zur Arbeit gehen? Es sind Ängste, die hier zusammenwirken, wobei die Mitarbeiter und die Organisation in gleicher Weise diese Angst aufrechterhalten. Die Organisationen haben Angst, dass die Dinge ausser Kontrolle geraten könnten, wenn die Mitarbeiter ihr ganzes Selbst in die Arbeit bringen – ihre Stimmungen, Eigenarten und Alltagskleider. In Armeen weiss man seit Langem, dass die Menschen leichter zu kontrollieren sind, wenn sie austauschbar werden. Die Mitarbeiter hingegeben haben Angst, dass sie Kritik und Spott ernten, wenn sie sich vollkommen zeigen und als eigenartig und fehl am Platz wahrgenommen werden. Man wird besser anerkannt, wenn man auf Nummer sicher geht und sein Selbst hinter einer professionellen Maske verbirgt.” (Frederic Laloux, Reinventing Organizations, Deutsche Ausgabe, S. 144)

Werde, wer Du bist

Die Weisheitstraditionen in der ganzen Welt sprechen über den Wunsch des Menschen, in gesunden Beziehungen mit sich selbst, anderen Menschen, der Schöpfung, der Arbeit und dem Transzendenten zu leben. Laloux schreibt dazu:

“[…]wir werden in eine Trennung hineingeboren und lernen, uns von unserem tieferen Wesen, von anderen Menschen und dem Leben um uns herum getrennt zu fühlen. Die Traditionen sagen uns, dass unsere tiefste Bestimmung im Leben darin besteht, unsere Ganzheit wiederzufinden, in uns und unserer Verbundenheit mit der äusseren Welt. Aussergewöhnliche Dinge werden möglich, wenn wir es wagen, unser ganzes Selbst in unserer Arbeit zum Ausdruck zu bringen. Jedes Mal, wenn wir einen Teil von uns zurücklassen, dann schneiden wir uns von einem Teil unseres Potenzials, unserer Kreativität und Energie ab.” (Frederic Laloux, Reinventing Organizations, Deutsche Ausgabe, S. 144)

Umsetzungsbeispiele zur Inspiration

Beginn und Ende von Meetings

„Bei Sounds True beginnt jede Besprechung mit einer Minute der Stille. Dadurch können sich die Mitarbeiter zunächst im gegenwärtigen Moment verwurzeln.“ (Frederic Laloux, Reinventing Organizations, Deutsche Ausgabe, S. 164)

„Einige Unternehmen […] beginnen ihre Besprechungen mit einem ‚Check-in‘ und enden mit einem ‚Check-out‘. Beim Check-in sind die Mitarbeiter eingeladen, mit den anderen zu teilen, wie sie sich jetzt zum Beginn des Meetings fühlen. […] Das Check-out am Ende des Meetings ermöglicht das Anerkennen unausgesprochener Emotionen im Raum - die Dankbarkeit, die Begeisterung, den Ehrgeiz, die Frustration oder Sorgen, die das Meeting ausgelöst hat.“ (Ebd. S. 164)

„Beim Center for Courage & Renewal beginnen die Besprechungen mit einem kurzen Text, den jemand vorbereitet hat.“ (Ebd. S. 164)

„Bei FAVI gab es viele Jahre lang die Praxis, dass jedes Meeting mit allen Teilnehmern damit begann, das jemand eine kurze Geschichte über jemanden erzählt, dem man kürzlich Dankbarkeit oder Wertschätzung entgegengebracht hat. […] Nach einigen Jahren fühlte sich diese Praxis für die Mitarbeiter von FAVI überholt an, deshalb wurde sie beendet. […] diese Praktiken müssen als lebendig und sinnvoll erfahren werden, nicht formal und veraltet.“ (Ebd. S. 165)

Mit unserem Menschsein arbeiten

Die meisten Praktiken, die uns eine tiefe Ganzheit eröffnen, sind überraschend einfach und haben damit zu tun, dass wir die so hoch gelobte Work-Life Trennung auflösen. Der Hersteller von Outdoorkleidung, Patagonia, hat in der Firmenzentrale eine Kindertagesstätte für die Kinder der Mitarbeitenden eingerichtet. Das Lachen, Streiten und Spielen der Kinder dringen dabei immer wieder in die Arbeitsräume. Die Kinder besuchen die Eltern an ihren Arbeitsplätzen oder es wird gemeinsam gegessen.

„Die Beziehungen verändern sich subtil aber tiefgreifend, wenn sich die Mitarbeitenden nicht nur als Kollegen sehen, sondern auch als Menschen, die sich voller Liebe und Fürsorge um ihre Kinder kümmern. Wenn die Kollegen beim Mittagessen mit einem Baby gespielt haben, ist es unwahrscheinlich, dass sie sich in der folgenden Besprechung anfeinden. Am Arbeitsplatz Hunde oder Kinder zuzulassen ist nichts Weltbewegendes. […] Für mich wirft es die Frage auf: Wie weit sind wir eigentlich in der Trennung gegangen, dass wir so etwas ungewöhnlich finden. Natürlich werden einige Leute anmerken, dass uns die Kinder von der Arbeit ablenken können. Aber ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass die Ursache tiefer liegt: Wir haben Sicherheit darin gefunden, dass wir uns am Arbeitsplatz nur mit einem begrenzten Teil unseres Selbst zeigen. Der Gedanke, Tiere oder Kinder am Arbeitsplatz zu haben, gefällt uns vielleicht deshalb nicht, weil wir in ihrer Anwesenheit wahrscheinlich einen vollkommen anderen Teil unseres Selbst zeigen würden – einen Teil, der fürsorglich und liebevoll ist. (Frederic Laloux, Reinventing Organizations, Deutsche Ausgabe, S. 147)

Quellen

  • Frederic Laloux, Reinventing Organizations - Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, 2015 (deutsche Übersetzung des Originals von 2014).
  • Yvon Chouinard (Patagonia), Lass die Mitarbeiter surfen gehen: Die Erfolgsgeschichte eines eigenwilligen Unternehmers, 2009.
  • Brandes, Gemmer, Koschek, Schülken, Management Y, 2014